Dienstag, 10. Juli 2012

Widersprüche bis zum letzten Wort

Sie war zu früh da wie immer. Immer hoffte sie, je eher sie dort sei, umso eher sei sie auch wieder raus. Das war nie so. Die blonde Frau an der Anmeldung begrüßte sie freundlich, lächelte sie an. Mit einer Handbewegung deutete sie auf das Wartezimmer. Es saßen nur wenige Leute dort. Eine alte Frau mit weißen Haaren wirkte aufgeregt. Eine andere Frau, sicherlich eine Mutter, denn sie hatte einen Mutterpass in der Hand, starrte wütend auf die Uhr und dann zur Anmeldung. Seufzend setzte sich das Mädchen auf den hintersten Platz- den Platz mit dem Fenster. Es war endlich 13 Uhr- auf ihrem Zettel stand, dass sie um 13 Uhr dran sei, doch so war es nicht. Müdigkeit überfiel das Mädchen- wie immer in der letzten Zeit. Sie konnte noch so viel oder wenig geschlafen haben, sie wurde immer müder und müder. Antriebslos beschrieb das Mädchen es wenig später.
Sie wurde aufgerufen. Die blonde Frau von der Anmeldung brachte sie in ein Zimmer. Es wirkte noch bedrückender als das Wartezimmer, in dem nur Orchideen ein Lichtblick waren. Die junge Frau sagte 2 Zahlen. "125; 65" Dem Mädchen wurde mulmig. Würde das alles erklären? Sie wusste es nicht. Wieder setzte sie sich ins Wartezimmer und ihr Puls stieg. Sie wurde ungeduldig, wollte wegrennen, einfach aus der Tür stürmen und nach Hause. 
13:45 Uhr
Sie saß nur noch allein im Wartezimmer, gleich würde sie aufgerufen werden. Jetzt wollte sie wirklich wegrennen. Sie hatte Angst, dabei hatte sie seit Tagen darauf gewartet, endlich aufgerufen zu werden. 
14:00 Uhr 
Ihr Name ertönte durch einen kleinen Lautsprecher an der Wand. Die Stimme klang verzerrt. 
Das Mädchen holte tief Luft, strich ihren Rock glatt, fuhr sich durch die Haare und ging zur großen, weißen, geschlossenen Tür. Sie blieb einige zeit davor stehen, ohne sich zu bewegen- dann trat sie mit einem leisen Klopfen ein. 
Die Frau hinterm Schreibtisch wirkte alt- nicht so alt, aber sicherlich war sie schon über 45 vielleicht sogar 50? Wie dem auch sei- sie wirkte alt für ihr Alter, sogar ausgebrannt. 
Die gleichen Fragen wurden wie immer gestellt. Es gab einige gelbe Zettel, die sie wieder abgeben sollte mit einigen Informationen.
"Wie geht es dir?"
Gute Frage- wie ging es mir? Ausgebrannt, müde, antriebslos, einsam, tüchtig, fröhlich, erleichtert, zufrieden? All diese Adjektive, die immer und immer wieder das Gegenteil voneinander behaupten. Sie fand keine Worte.
"Ich weiß es nicht." 
"Denkst du, es ist besser geworden?"
War es besser geworden? Zahlen behaupten etwas anderes- aber körperlich? Müde, ausgelaugt, voller Kraft, glücklich. Alles Gegensätze, aber diese Gegensätze stimmten.
"Ich weiß es nicht."
"Brauchst du Hilfe?"
Darüber musste sie nicht nachdenken.
"Nein", sagte sie- mutig, der Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
"Melde dich, wenn etwas ist"
Mit diesem Worten ließ die alte Frau sie gehen. Sie war erleichtert, als sie das Zimmer verließ- fast schon glücklich oder doch nicht?
Sie hatte sich doch etwas vorgenommen- wollte nicht ohne Überweisung gehen.
Überweisung wohin? 

Abends schrieb sie in ihr Tagebuch:

Kleine Zahlen sind nicht alles. Der klügste Schüler kann der schlechteste Mensch sein und der dümmste kann der beste Mensch auf Erden sein. Kleine Zahlen sind keine Garantie dafür, dass man gemocht wird.
Ich lebe einfach mein Leben, egal, was die Anderen machen. Ob sie nun morgen erbrechen, Drogen nehmen oder sich bei einem Trinkspiel aus Versehen das Leben nehmen- nicht mein Problem.

Es ist nicht alles, nicht für dich, aber für mich.

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